HOFFEN AUF DEN SPÄTSOMMER

Auch im Frühjahr 2021 werden in Berlin keine großen Laufveranstaltungen stattfinden
 – ebenso wenig wie in Deutschland und fast in der gesamten Welt. Dennoch blickt der Veranstalter SCC Events optimistisch in die zweite Jahreshälfte
BMW Berlin Marathon
Bereits frühzeitig wurde der traditionelle, große Frühjahrssaisonauftakt in der Hauptstadt, der Generali Berliner Halbmarathon, auf den 22. August verschoben. Viele andere bedeutende Straßenläufe sind ebenfalls aufgrund der andauernden Coronapandemie in die zweite Jahreshälfte verlegt worden. Lediglich einige kleine Rennen für Spitzensportler konnten ohne Zuschauer gestartet werden. Dass die Veranstalter trotzdem noch nicht, wie im letzten Jahr befürchtet, die Segel streichen, hängt einerseits mit Unterstützungsgeldern zusammen, die die Vereinigung der deutschen Straßenlaufveranstalter German Road Races (GRR) bei der Bundesregierung entscheidend vorangetrieben hat. Andererseits spielt aber auch die Hoffnung auf eine ausgedehnte Saison vom Sommer bis in den Spätherbst 2021 eine große Rolle. Relativ optimistisch blicken die Organisatoren derzeit auf den Spätsommer und bauen in erster Linie auf einen verspäteten Erfolg der Impfpolitik. Doch wenn sich diese Hoffnung ein weiteres Mal nicht erfüllen sollte, könnte es doch für viele schwierig werden. Ist die Herbstsaison so etwas wie der „Last Chance Saloon“ des Laufsports?

Noch im vergangenen Sommer ging man bei SCC Events, dem größten deutschen Laufveranstalter, davon aus, dass „Schicht im Schacht ist, wenn der BMW Berlin-Marathon ein zweites Mal ausfallen würde“. Ob dem tatsächlich so wäre, sollte der spektakulärste deutsche Straßenlauf auch 2021 nicht stattfinden, damit will sich Jürgen Lock, der Geschäftsführer von SCC Events, zurzeit eher nicht beschäftigen. Geplant ist der Marathonlauf für den 26. September. „Zurzeit gehen wir davon aus, dass etwas stattfindet, und erwarten kein Worst-Case-Szenario“, sagt Jürgen Lock. „Wir beobachten das Geschehen natürlich ganz genau und hoffen, dass es in die richtige Richtung geht.“
„Zurzeit gehen wir davon aus, dass etwas stattfindet, und erwarten kein Worst-Case-Szenario. Wir beobachten das Geschehen natürlich ganz genau und hoffen, dass es in die richtige Richtung geht.“
Jürgen Lock, Geschäftsführer SCC Events
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Für eine Rückkehr zu großen Laufveranstaltungen sind für SCC Events drei Dinge entscheidend: „Der Status des Impfens, die Testmöglichkeiten und die Antigen-Situation, die zeigt, wie viele Menschen mit Corona schon infiziert waren“, sagt Jürgen Lock. „Was den Marathon betrifft, gehen wir davon aus, dass bis dahin im September minimal 50 Prozent der Bevölkerung geimpft sein wird – wir rechnen eigentlich eher mit 70 Prozent.“ Trotz aller Pannen der bisherigen Impfpolitik bleiben die Vakzine die große Hoffnung der Veranstalter. Nur über fortschreitendes Impfen lässt sich nach und nach wieder eine Normalität bei Laufveranstaltungen herstellen. „Um eine geimpfte Person brauchen wir uns nicht mehr kümmern“, erklärt Jürgen Lock, der mit seinem Team aber auch Szenarien mit vielen Schnelltests plant. „Wir wollen zur Not auch in der Lage sein, eine Logistik anzubieten, um sehr viele Teilnehmer vor Ort testen zu können, denn wir brauchen Sicherheit – wir selbst und die Teilnehmer müssen geschützt sein.“

Planen trotz Unwägbarkeiten

Es ist für alle Veranstalter keine einfache Planung, da schwer abzuschätzen ist, wie die Situation im Sommer und Herbst sein wird. „Wie schnell kommen Lockerungen, wann ist eine entsprechende Immunität erreicht und wann wird die Situation sich wieder normalisieren – all das wissen wir nicht. Hier ist auch die Politik gefragt, denn Veranstaltungen tauchen bei den derzeitigen Öffnungskonzepten gar nicht auf“, sagt Jürgen Lock.

Viele internationale Veranstalter, darunter zum Beispiel auch der des Vienna City Marathons, der am 12. September als erster bedeutender europäischer Marathon mit Elite- und Breitensportlern stattfinden könnte, fordern eine längst überfällige Differenzierung von der Politik. Denn immer wieder werden Freiluft- und Hallenveranstaltungen wie auch Konzerte in einen Topf geworfen, obwohl das Infektionsrisiko offensichtlich ganz verschieden ist.

In Japan, wo im Sommer die Olympischen Spiele nachgeholt werden sollen, wurde bereits im März ein erstes Rennen gestartet, das an Vor-Corona-Zeiten erinnerte. Elite- und Breitensportler starteten in Nagoya gemeinsam in zwei verschiedenen Wettbewerben. Es gab ein stringentes Hygienekonzept, zugelassen waren zudem nur nationale Läufer. Etliche Zuschauer standen an der Strecke, fast alle mit Masken. Die Japaner haben ein Beispiel geliefert für einen Weg zurück in die Normalität für Laufsportveranstaltungen.
„Es gibt eine Reihe von Faktoren, die den Veranstaltern noch das Genick brechen können.“
Horst Milde GRR-Vorsitzender
Der Herbst-Lauf-Kalender ist aufgrund zahlreicher Verschiebungen längst überfüllt mit hochkarätigen Veranstaltungen. Die Serie der „World Marathon Majors“, zu der auch Berlin gehört, soll mit sechs Läufen binnen sechs Wochen stattfinden. Normalerweise zieht sich diese über rund neun Monate.

Einerseits ist es in der derzeitigen Situation sicher ein Vorteil, wenn sich viele Läufer auf mehrere Rennen verteilen können. Andererseits benötigen die Organisationen eine gewisse größere Teilnehmerzahl, um überhaupt wirtschaftlich veranstalten zu können. „Wenn es wieder losgeht, wissen wir beim besten Willen nicht, wie viele Läufer bei uns starten werden. Wir können nicht einmal abschätzen, ob die Läufer kommen, die ihr Startrecht aus dem vergangenen Jahr in dieses übertragen haben, also bereits eine Startnummer haben“, sagt Jürgen Lock, der angesichts der Attraktivität des Halbmarathons und Marathons auf einen Vorteil hofft. „Für einige Veranstalter wird das wirtschaftlich nicht leicht.“

Jeder Veranstalter kämpft für sich

Abgesehen von virtuellen Rennen, bei denen jeder für sich zu Hause läuft und die Ergebnisse dann online meldet, plant SCC Events die erste echte Laufveranstaltung am 10. Juni. Eine 5x5-km-Staffel in Brandenburg soll den Auftakt machen. In Berlin soll es dann am 31. Juli mit der Adidas Runners City Night auf dem Kurfürstendamm weitergehen. Darauf folgen die Berliner Wasserbetriebe 5x5 km-TEAM-Staffel (11. bis 13. August), der Generali Berliner Halbmarathon (22. August) und der BMW Berlin-Marathon (26. September) – ein ambitioniertes Programm binnen zwei Monaten. Personell fühlt sich SCC Events dieser Herausforderung gewachsen. „Wir haben nach wie vor niemanden entlassen. Das Kurzarbeitergeld war dabei natürlich extrem wichtig“, sagt Jürgen Lock. „Teilweise kommen die Mitarbeiter auch wieder mehr ins Büro, schließlich brauchen sie den Bezug zur Firma und müssen im Thema bleiben.“

GEPLANTE LÄUFE IN BERLIN & BRANDENBURG

10.6.
Brandenburg Staffel

31.7.
Adidas Runners City Night

11. – 13.8.
Berliner Wasserbetriebe
5x5 km-Team-Staffel


22.8.
Generali Berliner Halbmarathon

26.9.
BMW Berlin-Marathon
Vorstellbar sei, dass es im Herbst wieder einige größere Rennen geben kann, sagt Horst Milde, der Gründer des Berlin-Marathons und Vorsitzende der German Road Races (GRR). „Aber wir werden sicher keine Teilnehmerfelder mit 40.000 Läufern sehen, so wie früher in Berlin. Zum einen finden sich so viele Teilnehmer gar nicht, zum anderen ist das organisatorisch mit den Hygieneregeln nicht zu stemmen“, sagt Horst Milde, der angesichts der Vielzahl von Läufen im Herbst „ein Hauen und Stechen“ befürchtet, „denn jeder Veranstalter kämpft für sich“.

German Road Races (GRR) hat im vergangenen Jahr viel getan, um die Veranstalter zu unterstützen. Mit einer Petition (Save the Events - Rettet unsere Läufe!), die fast 10.000 Unterschriften erreichte und bei Open Petition nach wie vor unterstützt werden kann, und der entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit wurde auf die Probleme der Laufveranstalter aufmerksam gemacht. Nachdem die ersten Wirtschaftsförderungen für viele aufgrund ihrer Organisationsform nicht zugänglich waren, konnte GRR in zähen Verhandlungen mit den entsprechenden Ministerien bewirken, dass dies geändert wird. „Im Rahmen des Überbrückungsgeldes III können Laufveranstalter inzwischen Unterstützungsgelder beantragen. Dafür gibt es eine eigens eingerichtete Wirtschaftskennziffer“, erklärt Karsten Schoelermann, der zum GRR-Vorstand gehört und maßgeblich an den Verhandlungen mit dem Finanzministerium beteiligt war. Der Organisator des Hamburger Halbmarathons fügt hinzu: „Mit dieser Unterstützung und der Möglichkeit, mit relativ geringem Aufwand ein virtuelles Rennen anzubieten, um die Ausfälle selbst noch etwas zu kompensieren, müssten die Veranstalter auch durch dieses Jahr kommen.“

Während viele Organisatoren optimistisch sind, warnt hingegen Horst Milde: „Es gibt eine Reihe von Faktoren, die den Veranstaltern noch das Genick brechen können“, sagt der GRR-Vorsitzende. Man wisse zum Beispiel nicht, wie viele Läufer tatsächlich zu den großen Rennen zurückkehren. „Das kann dann auch wieder finanziell schwierig werden. Zudem sind viele ehrenamtliche Helfer älter – ob sie sich trauen, zurückzukommen?“ Man müsse auch sehen, dass das Gros des Laufsports die 30- bis 60-Jährigen ausmachen, so Horst Milde weiter. „Sie müssten geimpft sein.“
Jörg Wenig

„Wir müssen uns auf verschiedenste Szenarien vorbereiten“

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Mark Milde ist seit 2004 der Race-Direktor des BMW Berlin-Marathons und der anderen großen Rennen von SCC Events. Bereits seit gut 20 Jahren ist der 47-Jährige für die Elitefelder der Läufe zuständig. Im Marathon wurden unter seiner Regie in Berlin neun Weltrekorde aufgestellt.
Die Situation erscheint paradox: Seit über einem Jahr können große Laufveranstaltungen aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden, aber bei kleinen, reinen Eliterennen fallen ständig Rekorde und Bestzeiten. Wie ist das zu erklären?
Das hat verschiedene Gründe. Zum einen finden diese kleinen Rennen an Orten statt, die ideale Bedingungen bieten. So hat zum Beispiel die windgeschützte Pendelstrecke in Berlin Rauchfangswerder, wo verschiedene Rennen stattgefunden haben, lediglich ein Gefälle von insgesamt 60 Zentimetern. Eine derart flache Strecke kombiniert mit einer bestmöglichen Betreuung der Läufer ist perfekt für Eliteathleten. Hinzu kommt natürlich die aktuelle Entwicklung bei den Schuhen, die sich leistungsfördernd auswirkt.

Wird sich die Rekordentwicklung fortsetzen, wenn es wieder normale, große Läufe geben wird?
Das muss man abwarten. Generell wird es für uns als große Laufveranstalter bei dieser Menge von Topzeiten, die auf entsprechend flachen Strecken gelaufen wurden, eher schwerer. Denn wir müssen natürlich Strecken anbieten, auf denen Platz ist für viele tausend Läufer und die möglichst attraktiv sein sollen – die sind aber dann nicht ganz so flach. Die neuen Schuhmodelle spielen aber auch eine große Rolle, vor allem auf längeren Strecken.

Hätte man diese Schuhe nicht stärker reglementieren müssen, um den Materialvorteil nicht zu groß werden zu lassen?
Im Nachhinein gesehen auf jeden Fall. Wahrscheinlich war es der entsprechenden Kommission des Leichtathletik-Weltverbandes nicht so bewusst, welche Entwicklungen diese Schuhe auslösen würden. Gewisse Fortschritte wird es natürlich immer geben. Vielleicht haben wir eines Tages in irgendeiner Stadt auch einen anderen Straßenbelag, der sich leistungsfördernd auswirkt. Als klassischer Leichtathletik-Fan sehe ich die aktuellen Entwicklungen mit gemischten Gefühlen. Denn die Rekorde großer Athleten bekommen plötzlich den Stellenwert einer Fließbandware. Wer weiß, was Haile Gebrselassie mit diesem Schuh hätte laufen können?
                                   
Glauben Sie, dass die Olympischen Spiele stattfinden werden?
Ich gehe davon aus, dass die Spiele stattfinden werden. Aber ich denke, sie werden entweder ganz ohne Zuschauer oder vielleicht nur mit einheimischen Zuschauern veranstaltet werden können. Ich kann mir auch vorstellen, dass vielleicht nicht alle Nationen teilnehmen können.

Wie steht es bei den Laufwettbewerben um die Chancengleichheit – bei Olympia, aber auch bei anderen Rennen in diesem Jahr?
Ich kenne im Augenblick kein Land, in dem man zurzeit nicht trainieren könnte. Es ist nicht mehr so wie vor einem Jahr, als Athleten in Italien oder Spanien aufgrund eines extremen Lockdowns nicht mehr draußen laufen konnten. Athleten, die ohnehin in der Höhe wohnen, haben vielleicht einen Vorteil. Denn es ist für andere zum Teil schwierig, geplante Höhentrainingslager umzusetzen. Insgesamt ist das sicher nicht ganz gerecht, aber noch zu vertreten.

Wie ist die Situation der Topläufer im SCC EVENTS PRO TEAM?
Mit Alina Reh haben wir ein neues, prominentes Mitglied im Team. Sie hat über 5 000 Meter bereits die Olympianorm unterboten, und wir gehen davon aus, dass sie bei Olympia starten wird. Wir sind gespannt auf ihre weitere Entwicklung. Im Dezember lief Johannes Motschmann in Wien mit 2:14:38 Stunden ein prima Marathondebüt. Geplant ist, dass er beim BMW Berlin-Marathon starten wird. Ansonsten sind wir dabei, unseren Fokus stärker auf den Nachwuchs zu legen. Wir hoffen, dass wir da die eine oder andere Läuferin nach vorne bringen können.

Was macht ein Race-Direktor ohne Rennen während der Coronapandemie?
Zurzeit sind wir sehr viel mit Planungsarbeit beschäftigt, da wir uns auf verschiedenste Szenarien vorbereiten müssen. Es gibt dabei immer wieder neue Überlegungen, wie wir zu einem Neustart des Laufsports kommen können.

Werden wir im Herbst wieder größere Läufe mit Spitzen- und Breitensportlern in einem Rennen sehen?
Ich glaube, dass wir im Herbst wieder größere Läufe erleben werden. Für den BMW Berlin-Marathon halte ich eine Größe mit einer fünfstelligen Teilnehmerzahl für möglich. Wenn die Felder zu klein sind, ist eine solche Veranstaltung nicht wirtschaftlich – das dürfte den einen oder anderen Organisator noch vor Probleme stellen. Voraussetzung für eine solche Rückkehr des Laufsports ist natürlich, dass der Impfprozess Fahrt aufnimmt.
Jörg Wenig

Die Laufschuh-revolution

Im Profisport fallen derzeit ständig Rekorde und Bestzeiten auf Langstrecken – aufgrund der neu entwickelten Carbonschuhe
Neue Sohlen hat das Land: Durch eine Carboneinlage sind deutlich schnellere Zeiten vor allem auch über die Marathondistanz möglich
Neue Sohlen hat das Land: Durch eine Carboneinlage sind deutlich schnellere Zeiten vor allem auch über die Marathondistanz möglich
Der Elitelaufsport erlebt eine paradoxe Situation: Aufgrund der Pandemie gibt es nur wenige kleine Rennen, die den Profisportlern vorbehalten sind. Gleichzeitig fallen bei diesen Wettkämpfen ständig Rekorde und Bestzeiten. Zudem gibt es eine nie zuvor gesehene Breite in der Spitze. Entscheidend für diese enorme Entwicklung ist nicht nur die eigene Leistungsstärke, sondern neues Schuhmaterial.

Seit das US-Unternehmen Nike vor einigen Jahren Laufschuhe entwickelte, in deren Sohle eine Carbonplatte eingesetzt ist, werden die Bestenlisten in den Langstrecken auf den Kopf gestellt. Welt- und Kontinentalrekorde fallen ebenso wie reihenweise nationale Bestmarken. Da andere Laufschuhhersteller nachgezogen haben, kann man davon ausgehen, dass zumindest bei den Olympischen Spielen in Japan bezüglich des Materials wieder Chancengleichheit bestehen dürfte.

Die Wirkung der Schuhe lässt sich anhand der weltweiten Bestenlisten ablesen: 2017 erreichten vier Männer Zeiten unter 2:05 Stunden im Marathon, zwei Jahre später gab es 17 derartige Zeiten. Im Halbmarathon blieben 2020 vier Läufer unter 58 Minuten, was zuvor niemand geschafft hatte. Bei den Frauen verhält es sich ähnlich: 2016 rannte eine Läuferin im Marathon unter 2:20 Stunden, drei Jahre später gab es 13 solcher Ergebnisse.

Damit nicht genug: In Deutschland haben die Schuhe auch eine Auswirkung auf den Wettlauf um die maximal drei olympischen Marathonstartplätze. Denn inzwischen haben mehr Athleten, als zu erwarten war, die internationalen Qualifikationszeiten von 2:11:30 (Männer) beziehungsweise 2:29:30 Stunden (Frauen) unterboten. Auch zwei Berlinerinnen sind im Rennen um die Tickets nach Japan: Deborah Schöneborn steigerte sich im Dezember beim Valencia-Marathon mit den neuen Schuhen gleich um über vier Minuten auf 2:26:55 und steht damit innerhalb des Qualifikationszeitraumes auf Platz zwei in Deutschland. Ihre Zwillingsschwester Rabea (beide starten für die LG Nord Berlin) lief in Valencia ihr Marathondebüt in beachtlichen 2:28:42. Sie ist im Rennen um die Olympia-Startplätze zurzeit Fünfte. Allerdings endet der Qualifikationszeitraum erst Ende Mai; bis dahin werden noch weitere deutsche Athleten starten, die zum Teil bisher noch nicht in den neuen Schuhen gelaufen sind.

Neue Schuhe, neue Bestzeiten

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Durch die Carbontechnik in den Schuhsohlen ist der Abdruck viel intensiver. Man hat mitunter das Gefühl, förmlich zu springen.
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„Die Carbontechnik ist ganz sicher ein technologischer Fortschritt, überbewerten sollte man diese Neuerungen aber auch nicht.“

Marathonläufer Hendrik Pfeiffer,
TV Wattenscheid
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Pro Kilometer kann der Unterschied schon mal zwei bis vier Sekunden betragen. Das summiert sich auf der Marathondistanz enorm.
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International plädieren viele Experten schon für unterschiedliche Bestenlisten.
Die Berliner Zwillingsschwestern Deborah und Rabea Schöneborn laufen so schnell wie nie
Die Berliner Zwillingsschwestern Deborah und Rabea Schöneborn laufen so schnell wie nie
Deutliche Leistungssteigerung

Unter den Eliteläufern besteht Einigkeit dahingehend, dass die neuen Schuhmodelle für deutliche Leistungssteigerungen sorgen. „Der Unterschied zu den früheren Modellen ist groß. Der Abdruck ist jetzt viel intensiver, du springst förmlich. Dadurch ist das gesamte Laufgefühl viel besser, und somit haben die Schuhe sogar einen positiven Effekt auf die Motivation“, sagt Amanal Petros (TV Wattenscheid), der bei Adidas unter Vertrag ist und sich bei seinem deutschen Marathonrekord von 2:07:18 Stunden in den neuen Schuhen um 3:11 Minuten steigerte. „Ich hatte besser trainiert vor meinem zweiten Marathon, aber die Schuhe haben geholfen. Ich schätze, der Unterschied könnte drei bis vier Sekunden pro Kilometer im Marathon betragen.“ Das wären rund zweieinhalb Minuten.

Mit Nike rennt Hendrik Pfeiffer (TV Wattenscheid), der sich 2020 beim Sevilla-Marathon um fast drei Minuten auf 2:10:18 Stunden verbesserte. Eine klare Steigerung war ihm auch unabhängig von den Schuhen zuzutrauen, aber mit drei Minuten war sicher nicht zu rechnen „Ich denke schon, dass die Carbonschuhe ein technologischer Fortschritt sind, der sich auf die Zeiten auswirkt“, sagt Pfeiffer. „Überbewerten sollte man die Technologie dennoch nicht. Ich bin sowohl meinen schnellsten als auch langsamsten Marathon mit Carbonschuhen gelaufen. Entscheidend ist und bleibt das Training im Vorfeld. Der Schuheffekt wird sich im Bereich der Differenz zwischen den Weltrekorden vor und in der Carbonära bewegen“, so Pfeiffer weiter. Bei den Männern beträgt die angesprochene Differenz im Marathon zurzeit 1:18 Minuten.

Athleten, die bei Asics unter Vertrag stehen, verfügen erst seit kurzer Zeit über neue Carbonlaufschuhe, sodass sie erst noch von der neuen Schuhgeneration profitieren werden. Das dem so ist, davon geht Katharina Steinruck (Eintracht Frankfurt) aus. Die Asics-Athletin hat bisher eine Marathonbestzeit von 2:27:26. „Ich bin sehr überzeugt von dem neuen Schuh, er wird mir hoffentlich viel bringen“, sagt Steinruck. „Die Ermüdung setzt später ein, sodass man länger eine höhere Geschwindigkeit laufen kann.“ Arne Gabius (Therapie Reha Bottwartal), der vor Amanal Petros den deutschen Marathonrekord mit 2:08:33 Stunden hielt, lief bis Ende 2020 mit Nike-Schuhen. Zurzeit testet er im Training ein Modell von New Balance. „Die Schuhe bringen mehr, je länger die Distanz ist, je weniger Kurven es gibt und je flacher die Strecken sind“, sagt Gabius.

Besonders international gibt es viele Stimmen, die dafür plädieren, angesichts der Flut von Rekorden zwei verschiedene Listen zu führen oder Rekorde, die mit den alten Schuhen gelaufen wurden, einzufrieren. Dafür spricht sich Gabius nicht aus: „Die Entwicklungen sind gravierend, aber es ist Technologie im Rahmen der Regeln.“ Amanal Petros und Hendrik Pfeiffer sind ebenso dafür, bei Rekord- und Bestenlisten nicht zu differenzieren zwischen altem Schuhwerk und der neuen Technologie. Anders sieht das Katharina Steinruck: „Ich bin sehr dafür, die bisherigen Bestzeiten einzufrieren und zwei Listen zu führen. Hier ist keine Chancengleichheit mehr gegeben. Wer das beste Material hat, ist vorne. Man muss auch sehen, dass sich nur wenige Athleten ihren Sponsor aussuchen können.“ Da die Carbonschuhe in der Regel schon nach rund 200 Kilometern ihre Wirkung verlieren, stellt sich besonders auch bei Nachwuchsläufern die Frage: Gewinnen zukünftig jene Athleten, die es sich leisten können, alle paar Wochen teure, neue Schuhe zu kaufen?
Jörg Wenig
Zapf Umzüge

Schwachstelle Meniskus

Das Kniegelenk ist hochkomplex und muss große Belastungen aushalten. Dabei spielen die Zwischengelenkscheiben, die sogenannten Menisken, eine wesentliche Rolle.
Was Sportler über die Menisken wissen sollten, erklärt Karsten Labs, Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am Vivantes Humboldt-Klinikum.
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FUNKTION DER MENISKEN
Zum einen gleichen die Zwischengelenkscheiben, sprich die Menisken, anatomische Ungleichheiten aus, die sich durch die unterschiedlichen Formen des Schienbeinkopfes und der Oberschenkelrolle ergeben. „Das passt ja nicht wie Ei auf Eierbecher“, sagt Chefarzt Karsten Labs. Der Innenmeniskus ist halbmondförmig, der äußere hat eine runde Form. Zum anderen dienen die Menisken als Stoßdämpfer. Sie sind sehr beweglich und verteilen die Kräfte. Das hat einen positiven Effekt auf die Knorpelernährung, also die Verteilung der Gelenkflüssigkeit.
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UNTERSCHIEDLICHE GEWICHTS­BELASTUNG
Beim Stehen lastet lediglich das eigene Körpergewicht auf den Kniegelenken. Zum Vergleich: Beim Joggen ist es bereits das Dreifache, beim Dreisprung sogar das Siebenfache.
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WORAUF SPORTLER ACHTEN SOLLTEN
„Das A und O ist die optimale Vorbereitung auf die Belastung“, sagt Karsten Labs. Man sollte sich vor dem Training adäquat aufwärmen und danach unbedingt dehnen, um die Muskulatur wieder zu entspannen. Er empfiehlt, mit geringen Intensitäten zu beginnen und die Belastung langsam zu steigern. „Letztendlich dreht sich alles um die Muskulatur, je stärker sie ist, desto stabiler das Gelenk.“ Auch Unfälle passieren häufig in Momenten, in denen die Muskulatur versagt. Dabei nehmen auch stabilisierende Strukturen Schaden wie Kapsel, Bänder oder eben die Menisken.
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FORMEN VON SCHÄDIGUNGEN
Mediziner unterscheiden zwischen altersbedingten degenerativen Schäden, Überlastungsschäden und Meniskusrissen, die in der Regel akut auftreten, verursacht etwa durch einen Unfall. „Bei Sportlern hat man es meist entweder mit einem Sportunfall oder einer chronischen Überlastung zu tun.“ Der Innenmeniskus ist wesentlich häufiger von Schädigungen betroffen als der Außenmeniskus, „das hat etwas mit der anatomischen Aufhängung zu tun“. Es gibt unterschiedliche Rissformen wie Vertikal-, Horizontal- oder Lappenrisse sowie sogenannte Korbhenkelrisse. Überlastungsrisse wiederum haben eine andere Form als Risse, die etwa durch einen Sturz entstanden sind. „Wenn ein Skifahrer bei einem Abfahrtslauf das Knie extrem verdreht, dann entstehen häufig kapselnahe Risse, die mit großen Einblutungen einhergehen, während Überlastungsrisse eher im Meniskuskörper sind. Sie beginnen mit einer Degeneration, die langsam fortschreitet; die Rissbildung wird immer größer“, so der Sportorthopäde.
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HIGHTECH-SPORTSCHUHE
Mit der Entwicklung von innovativen Schuhkonzepten hat sich etwas verändert. Die neuen Schuhe verfügen über eine hervorragende Dämpfung. Der Nachteil: Die Eigenmuskulatur verändert sich dadurch, vor allem in den Sprunggelenken. Durch die verbesserte Pufferung zum Beispiel der Ferse reduziert sich der Anteil der Muskel- und Fettzellen am Fersenbein deutlich. „Wenn Menschen es jahrelang gewohnt waren, solche Hightech-Sportschuhe zu tragen, dann kann das zum Problem werden, wenn sie barfuß laufen, weil sie muskulär nicht mehr darauf vorbereitet sind“, sagt Karsten Labs. „Der Schuh übernimmt das, was ansonsten die Muskulatur übernehmen würde.“
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WELCHE SPORTARTEN BESONDERS BELASTEND SIND
Es gibt zyklische und azyklische Sportarten. Zyklische Sportarten zeichnen sich durch gleichmäßige runde Bewegungen aus, dazu zählen zum Beispiel Fahrrad fahren oder Schwimmen. Zu den azyklischen zählen Sportarten wie Handball, Volleyball, Fußball oder auch moderne Bewegungsarten, wie sie in Sportstudios angeboten werden. Sprünge, Stop-and-Go-Bewegungen und Sidesteps sind nicht ganz ungefährlich. Diese azyklischen Sportarten sind besonders risikoreich für das Knie.
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DIAGNOSE­VERFAHREN
Nach der Anamnese und der klinischen Untersuchung empfiehlt sich entweder ein Röntgenbild oder besser eine Schnittbildgebung mit dem MRT. Sie liefert laut Karsten Labs eine Treffgenauigkeit von weit über 95 Prozent. „Die diagnostische Arthroskopie hingegen ist heute nicht mehr zeitgemäß, wird aber leider immer noch durchgeführt“, warnt der Chefarzt.
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BEHANDLUNGS­MÖGLICHKEITEN
Bei degenerativen Meniskusschäden sei ein Trendwandel zu beobachten. „Früher hat man sehr großzügig beschnitten, also Teile entfernt, davon ist man vollkommen weggekommen“, sagt Karsten Labs. Heutzutage stehe die nichtoperative Therapie im Vordergrund. „Wenn man zu früh zu viel Meniskusgewebe opfert, stört man das System Kniegelenk hinsichtlich der Puffer- und Stoßdämpferfunktion. Und es kommt sekundär zu frühzeitigen Gelenkveränderungen mit Knorpelschäden und letztendlich der Degeneration der Gonarthrose“, sagt Karsten Labs. „Man weiß heutzutage, dass Kniegelenke mit radikal voroperierten Menisken ein dreifach höheres Risiko haben, ein künstliches Gelenk zu bekommen.“
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KONSERVATIVE THERAPIEN
Wenn es sich in akuten Fällen um einen isolierten Riss handelt, sollte man nach den allgemeinen Prinzipien der Sportorthopädie handeln, nämlich nach der sogenannten PECH-Regel: Das bedeutet: Pause – Eis – Compression und Hochlagern. „Wenn es zu Quetschungen oder Zerrungen kommt, kann das zu bestimmten Beschwerden führen“, sagt Karsten Labs. „Diese können nach zwei oder drei Wochen mit Entlastung, Kühlung, Salben oder Bandage wunderbar wieder abheilen.“
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ROLLE DER PHYSIOTHERAPIE
Die Physiotherapie hat eine Schlüsselstellung. Durch eine Lymphdrainage lässt sich beispielsweise der Gelenkerguss reduzieren, das hilft gegen Schmerzen. Auch ein reflektorischer Muskelhartspann, also eine Verhärtung der Muskulatur, verursacht Schmerzen. Wenn man den Muskel physiotherapeutisch entspannt, hat der Patient weniger Beschwerden. Die Wiederherstellung der Beweglichkeit ist extrem wichtig, vor allem im Rahmen der Frührehabilitation. Durch gezieltes Balancetraining wird das Kniegelenk wieder auf die Belastung vorbereitet. Auch die Anwendung von sogenannten propriozeptiven Verfahren ist sinnvoll. Darunter versteht man eine Verbesserung der Lagekontrolle der Gelenke im Raum durch den Einsatz von Kippelbrettern oder kleinen Trampolinen. Darüber hinaus empfiehlt Karsten Labs eine Behandlung mit Kinesiotapes, sie nehmen den Schmerz und verbessern die Lymphdrainagetätigkeit.
TEXT Heike Gläser
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FOTOS unsplash / Flo Karr, SCC Events, PR, Joanna Zybon, Wüstenhagen / Vivantes

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